2. Erster Vergleich zwischen Ovid und Shakespeare

2.1 Ovids „Pyramus und Thisbe"

Ovids Metamorphosen stellen eine Einheit dar. Die von Verwandlungen unterschiedlichster Art erzählenden Geschichten sind inhaltlich miteinander verknüpft und chronologisch angeordnet. So taucht auch die Geschichte von Pyramus und Thisbe in einem bestimmten inhaltlichen Rahmen auf: Alkithoe, die Tochter des Königs Minyas, entscheidet sich für eben diese Novelle, die sie ihren Schwestern bei der Webarbeit erzählt.

Pyramus und Thisbe sind ein in Babylon wohnendes Liebespaar, deren Häuser so dicht nebeneinander stehen, dass sie eine gemeinsame Wand haben. Die Väter der sich Liebenden verbieten eine Heirat. Deshalb kommunizieren Pyramus und Thisbe durch die gespaltene Hauswand, die beide Häuser verbindet, und beschließen, sich nachts heimlich außerhalb der Stadt unter einem Maulbeerbaum zu treffen. Dort erscheint Thisbe eher als Pyramus und wird von einer Löwin verjagt, wobei sie ihren Mantel verliert. Diesen Mantel befleckt die von einer Jagd zurückkehrende Löwin mit Blut, und so wird er von Pyramus gefunden, der zu dem Glauben kommt, Thisbe sei getötet worden. Er begeht Selbstmord. Thisbe findet seinen Leichnam und bringt sich ebenfalls um, als sie den Grund erkannt hat. Vorher bittet sie ihre Eltern und den als Treffpunkt erwählten Maulbeer um Gedenken an ihre durch unglückliche Liebe begangenen Selbstmorde, worauf der Maulbeerbaum die dunkelrote Farbe seiner von Pyramus` Blut befleckten Früchte behält.

2.2 Analyse der Metamorphose – das Wandgespräch der Liebenden

Das Motiv dieser Geschichte ist die starke Liebe zwischen den zwei jungen Menschen Pyramus und Thisbe, die aber von Anfang an nicht die Chance bekommt, sich frei zu entfalten. Die ganze Zeit über gelingt es Pyramus und Thisbe nicht zusammenzukommen und eine ‚normale‘, zufriedenstellende Freundschaft zu haben. Ovid macht es dem Leser zum ersten Mal durch die Schilderung des Gesprächs deutlich, das das Paar durch den Spalt in der Hauswand führt. Pyramus und Thisbe sind räumlich voneinander nur durch eine Wand getrennt, was im Text durch einen Chiasmus anschaulich dargestellt ist (V.71): „ubi constiterant hinc Thisbe, Pyramus illinc". Diese Textstelle weist eine gewisse Symmetrie auf, so, wie das mögliche Bild von der Szene im Kopf des Lesers. Die Trennung der beiden ist zwar nicht vollkommen, aber dennoch schwer überbrückbar, was durch die allabendliche Kusszeremonie (V.79 – V.80) deutlich wird; beide geben ihrem Teil der Wand Küsse, die nicht auf die andere Seite gelangen. Trotzdem tun sie es. In V.79 und 80 beschreibt die Satzstellung die Distanz: „partique dedere / oscula quisque suae non pervenientia contra". „oscula" und deren Ziel, „contra", stehen an Anfang und Ende von Vers 80.

Die Wand als trennendes Element wird von Ovid personifiziert, Pyramus und Thisbe reden sie an (V.73 – V.77). Die Trennung wird für den Leser noch greifbarer.

„ ‚invide‘ dicebant ‚paries, quid amantibus obstas?" – „invide", betont, weil es sowohl am Satz – und Versanfang steht, als auch vom noch folgenden getrennt ist, charakterisiert die Wand als neidisch. Das Paar verurteilt die Wand, die den „amantibus" im Wege steht. Ovid benutzt die Worte ‚amor‘ und ‚amantes‘ sehr häufig, insgesamt tauchen sie elf Mal auf und rufen das Hauptthema der Geschichte ins Gedächtnis.

Pyramus und Thisbe scheinen sich allerdings halbwegs mit der Wand abgefunden zu haben, da sie einräumen (V.76f.), es der Ritze in der Wand und damit der Wand selbst zu verdanken, sich wenigstens verbal austauschen zu können. Jedenfalls ist die Liebesbeziehung des Paares momentan nicht ohne die Wand zu denken, was auch die Wortstellung in V.76 vermuten lässt: „tibi nos debere fatemur, / (quod datus est verbis ad amicas transitus auris").

Diese Umstände wecken die Sehnsucht des einen nach dem anderen. Das kommt schon allein dadurch zum Ausdruck, dass die Wandgespräche regelmäßig stattzufinden scheinen (V.71); „saepe" zeigt die Häufigkeit. Der Ablauf des Gesprächs, von Ovid wie ein täglicher geschildert – „sub noctem dixere ‚vale‘ [...] ad solitum coiere locum." (V.78 – V.83). Die Liebenden entwickeln eine gewisse Ausdauer, angetrieben wohl auch von ihrer Sehnsucht nach körperlicher Nähe, wie es in Vers 74 ausgesprochen wird: „quantum erat, ut sineres toto nos corpore iungi". Die Worte „toto nos corpore" enthalten zudem Lautmalerei. Das immer wiederkehrende ‚o‘ erinnert an Seufzen oder Jammern, die Vokalfarbe ist ziemlich dunkel und impliziert Niedergeschlagenheit. Ein ähnlicher lautmalerischer Ausdruck ist in den Versen 83f. enthalten: „tum murmure parvo multa prius questi statuunt, ut..". Die Vokalfarbe ist hier noch dunkler und beschreibt eine sehnsuchts – und geheimnisvolle Atmosphäre.

Der Textausschnitt enthält also primär eine sehnsuchtsvolle Stimmung. Dem Leser soll aufgehen, welch ein intensives Gefühl mit dieser Liebe hier unterdrückt wird. Die Trennung von Thisbe und Pyramus macht aus ihr eine „unglückliche" Liebe.

2.3 Shakespeares „Romeo und Julia" im Vergleich (1)

Shakespeares Werk, die Tragödie „Romeo und Julia", enthält eine Szene (2. Aufzug, 2. Szene), die vergleichbar ist mit dem Gespräch Pyramus` und Thisbes durch den Riss in der Hauswand. Es handelt sich um einen Dialog zwischen den Verliebten Romeo und Julia. Shakespeare hat einige Aspekte der Metamorphose aufgegriffen, aber auch einiges umgeändert. Die Situation des Liebespaares bei Shakespeare ist eine ähnliche: Sie lieben sich, werden aber durch ihre Familien gehindert, zusammenzukommen. Trotzdem bleiben sie in Kontakt miteinander. Ihr Gespräch in dieser Szene findet nachts im Garten der Familie Capulet (Julias Familie) statt, bei welchem Julia auf ihrem Balkon steht und Romeo darunter, nachdem er sich auf das für ihn verbotene Grundstück geschlichen hat. Die Andersartigkeit dieses Schauplatzes trägt zur Wirkung des Stückes bei: Romeo befindet sich auf dem Grundstück der Capulets, obwohl es für ihn lebensgefährlich ist (S.203, Z.26), weil beide Familien regelrecht verfeindet sind. Dieser Umstand erhöht die Spannung ebenso wie die Tatsache, dass es Nacht ist. Es mag auch etwas Romantischeres an sich haben, dass das Gespräch nicht bei Tageslicht stattfindet. Julia steht auf dem Balkon, was ihr etwas Würdevolles verleiht und auch Romeos Einstellung zu ihr widerspiegelt, der Julia wie eine Göttin verehrt. Dies wird in seinen Äußerungen deutlich: „Julia die Sonne!" (S.201, Z.3); „meine Göttin! meine Liebe!" (S.202, Z.2); „holder Engel!" (S.202, Z.21); „teure Heil`ge" (S. 203, Z.11). Damit zeigt Shakespeare die tiefe Liebe zwischen den beiden. Obwohl man Liebesintensität nicht in Maßeinheiten ausdrücken kann, stellt der Leser fest, dass Shakespeare die Liebe zwischen Romeo und Julia als noch stärker darstellen will, als es zwischen Pyramus und Thisbe zu beobachten war. Dafür sprechen die folgenden Änderungen. Einmal, wie schon gesagt, die räumliche Anordnung der Dialogpartner. Weiter die Tatsache, dass sie sich erst seit einigen Stunden kennen und trotzdem einander Liebe schwören (S.203. Z.33f./S.205, Z.9f.), sogar eine Heirat planen (S.205. Z.19 – Z.24). Shakespeare lässt am Anfang der Szene erst Romeo, dann Julia einen Monolog sprechen. Beide schwärmen liebevoll von dem anderen, während sie sich allein glauben. Julia allderdings wird von Romeo gehört, was sie zuerst nicht merkt. Die Ähnlichkeit ihrer so geäußerten Gedanken schafft eine besondere Verbindung. Sie sind miteinander im Einklang, was dem Leser deutlich macht, dass sie zusammengehören. Um dies zu verwirklichen begibt sich Romeo, wie schon erwähnt, in Gefahr, als er Julia aufsucht. Auch dies ist anders als in Ovids Metamorphose. Shakespeare zeigt es direkter, dass Romeos und Julias Treffen nicht erlaubt ist – es ist mit tödlicher Gefahr verbunden (S.203, Z.26). Er erzeugt damit Spannung, ebenso dadurch, dass Romeos und Julias Gespräch von Julias Amme unterbrochen wird (S.205, Z.12ff.), während Pyramus und Thisbe völlig ungestört sind.

Einen Hinweis auf den drohenden Tod gibt der Autor auch noch an anderer Stelle: „Durch ihren Haß zu sterben währ` mir besser, als ohne deine Liebe Lebensfrist." (S.203, Z.33f.) – Romeos Liebe ist stärker als seine Angst vor dem Tod. Dies mag auch eine Anspielung auf das tragische Ende der Liebesgeschichte sein.

Die Szene schließt mit dem Abschied Romeos und Julias voneinander, welcher ihnen sehr schwer fällt (S.206, Z.28 – Z.31).

In dieser Vergleichsstelle betont Shakespeare also hauptsächlich den Aspekt der großen Liebe des Paares, der die tiefe Feindschaft der Familien im Wege steht.

2.4 Shakespeares „Ein Sommernachtstraum" im Vergleich (1)

Derselbe Auszug aus Ovids Metamorphose lässt sich mit einer Szene aus einem anderen Werk Shakespeares vergleichen. In der Komödie „Ein Sommernachtstraum" (5.Aufzug, 1. Szene) wird Ovids Metamorphose als Schauspiel von einigen Arbeitern aus Athen vorgetragen. Theseus, Herzog von Athen, seine Verlobte Hippolyta, Lysander und Demetrius, zwei junge Athener, schauen sich das Spiel an.

Shakespeare setzt die Geschichte Pyramus` und Thisbes in diesem Werk auf humorvolle Weise um. Ohne den Inhalt zu verändern, nur durch die Art und Weise, wie die Rüpel das Stück vortragen, lässt er die Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe komisch erscheinen. Sie wird nicht ernst genommen bzw. kann nicht ernst genommen werden. Shakespeare weist schon darauf hin, bevor die Arbeiter das Stück aufführen. Hippolyta will es erst gar nicht sehen (S.551, Z.34f.), Theseus geht auch davon aus, das Stück habe kein hohes Niveau, wie es ihm vorher gesagt wurde, will es aber doch sehen (S.551, Z.38 – Z.42). Zwar bezieht sich diese Abneigung eher auf die Ungelehrtheit der Spieler, aber diese geben den Zuschauern Grund zu deren Abneigung, weil sie die Tragödie so spielen, dass sie eher Verachtung als Rührung hervorruft.

Der Autor stellt die Spieler als Personen dar, die durchaus die Absicht haben, das Stück ernst zu spielen, wie sie es in ihrem Prolog verkünden, geistig dazu aber nicht in der Lage sind (S.552, Z.23ff.). Sie werden als einfältig dargestellt, da sie es für nötig halten, auf ihre Rolle und Funktion hinzuweisen, technische Erklärungen zu geben und auch ihren bürgerlichen Namen zu nennen:

„In dem besagten Stück es sich zutragen tut,

Daß ich, Thoms Schnauz genannt, die Wand vorstelle gut.[...]

Der Mörtel und der Leim und dieser Stein tut zeigen,

Daß ich bin diese Wand, ich will`s euch nicht verschweigen."

Dies verhindert auch, dass sich die Zuschauer in die Geschichte einfühlen können, wie F. Schmitt – von Mühlenfels sagt: „Indem sich die Schauspieler statt als Theaterfiguren als Privatpersonen fühlen und als solche auch erkannt werden wollen, wird mit burlesker Wirkung immer wieder die mögliche dramatische Illusion zerstört." Die Aussagen der Spieler sind an dieser Stelle in Paarreime gefasst, die etwas eintönig wirken. Die Naivität wird auch dadurch hervorgehoben, dass sie einen spöttischen Komentar von Theseus ernst nehmen und den vermeintlich Unwissenden aufklären (S.554, Z.20 – Z.26).

Im Wandgespräch von Pyramus und Thisbe wird das Paar ebenso als nicht sehr ernst zu nehmend charakterisiert. Pyramus, der anscheinend seinen Seelenschmerz aufgrund der Trennung von Thisbe kundgeben möchte, klagt über die Nacht:

„O Nacht, so schwarz von Farb`, o grimmerfüllte Nacht!

O Nacht, die immer ist, sobald der Tag vorbei.

O Nacht! O Nacht! O Nacht! ach! ach! ach! Himmel! ach!"

Der Spieler versucht, poetische Sprache zu benutzen, die mit Interjektionen überladen ist und durch eine einfältige Äußerung unterbrochen wird. Das Jammern der Verliebten wird überspitzt.

Ovids Element, die Anrede der Wand, wird übernommen und weitergeführt. Die Wand, von einem Schauspieler dargestellt, zeigt auf Pyramus` Wunsch ihren Spalt (S.554, Z.15f.), nachdem er sie liebevoll umschwärmt hat (S.554, Z.14). Die Gestalt des Pyramus wird durch einen Wutausbruch veralbert, als er Thisbe nicht durch den Spalt sieht (S.554, Z.17ff.). In dem Dialog der Verliebten erscheinen die Spieler als geistig nicht fähig, das Geschehen nachzuempfinden, da Verwechslungen von Spieler und Rolle geschehen (S.554, Z.30). Sie geben inhaltlich unlogische Sätze von sich: „Ein Stimm` ich sehen tu` [...]" (S.554, Z.31f.). Der Charakter der Spieler vermischt sich stellenweise mit den Rollen, so dass ihre angekündigte Intention nicht vermittelt wird: In der Alltagssprache wird aus ‚Ninus‘ ‚Nickel‘ (S.555, Z.5), was die Verabredung von Thisbe und Pyramus als eine darstellt, die ohne größere Bedeutung nebenbei getroffen wurde. Scheinbar auf die Textstelle Ovids zurückgegriffen („quantum erat, ut [...] ad oscula danda pateres?" V.74f.) wird der Wunsch nach einem Kuss ebenfalls ins Lächerliche gezogen (S.555, Z.3f.):

„O küss` mich durch das Loch von dieser garst`gen Wand!

Mein Kuß trifft nur das Loch, nicht deiner Lippen Rand!"

Rein technisch ist die Bitte schon eine seltsame Vorstellung, der nüchtern gekontert wird.

Shakespeares Rüpelszene ist demnach eine Art Karikatur der Metamorphose Ovids. Er nimmt der Metamorphose ihren traurigen Ernst und gestaltet sie zu einem leichter verdaulichen, aber auch teilweise lächerlichen Theaterstück um.